Sabrina Jung
newsworksshowsvitatextscontact
 
 

Ein Dorf verschwindet
2004-2007
von Sabrina Jung

Gewissheit darüber, ob ein Haus bewohnt oder unbewohnt ist, ob der Pflanzenwuchs gewollter oder ungewollter Art ist, ob die Rasenflächen ehemals Hausgrundstücke waren oder etwas Anderes, stellt sich nicht ein. Der vom Menschen geschaffene Raum verändert sich, sobald er ihn verlassen hat. Die vorhandene Natur wächst weiter, ihren eigenen Regeln nach. Neue und ungewohnte Ansichten entstehen. Von einem Tag auf den Anderen verschwinden Häuser, wodurch die Orientierung innerhalb des Ortes diffus, und bekannte Wege fremdartig erscheinen. Durch den langsamen, jedoch kontinuierlichen Prozess des Entfernens, zeigt sich eine ständig wechselnde Szenerie mit immer neuen Durchblicken. Zuletzt wirken die im Abendlicht vereinzelt freistehenden Häuser beinahe romantisch. Die Straßen, mit ihren nun gigantisch wirkenden Laternen, schlängeln sich durch die frischen, jungen Wiesen. Erst in der Zusammenschau aller Bilder wird das leise Verschwinden, das Abräumen eines Ortes sichtbar.

Otzenrath - Ein Dorf verschwindet
Die über 800 Jahre alte Ortschaft Otzenrath gehörte der Gemeinde Jüchen im Kreis Neuss in NRW an. Geografisch betrachtet lag das Dorf zwischen den Städten Mönchengladbach, Düsseldorf, Köln und Aachen. Gleichzeitig befand es sich am östlichen Rand des Braunkohletagebaugebietes Garzweiler II und musste aus diesem Grund von der Landkarte verschwinden. Der Tagebau Garzweiler II, der eine Erweiterung des Tagebaus Garzweiler I darstellt, wurde im Juni 2006 in Betrieb genommen. Die RWE Power AG schätzt in maximal 210 Metern Tiefe 1,3 Milliarden Tonnen Braunkohle. Diese sollen bis 2044 abgebaut werden und der Stromerzeugung dienen. Trotz vehementen Widerstands der betroffenen Bürger der Region, wurde die Erweiterung des Tagebaus genehmigt. Von der Umsiedlung betroffen waren und sind neben Otzenrath elf weitere Dörfer: Spenrath, Holz, Pesch, Lützerath, Immerath, Borschemisch, Berverath, Holzweiler, Keyenberg, Kuckum, Oberwestrich und Unterwestrich. Insgesamt müssen circa 7600 Menschen ein neues Zuhause finden. Aus Otzenrath (alt) siedelten zwischen 1999-2006 ca. 1600 Menschen ins nordöstlich von Hochneukirch gelegene Otzenrath (neu) um. Der alte Ort verwandelte sich mehr und mehr in ein menschenleeres Geisterdorf. Eine Infrastruktur war ab einer bestimmten Einwohnerzahl nicht mehr aufrechtzuerhalten. Kontinuierlich wurden die leerstehenden Gebäude des Dorfes eingeebnet. Einzelne freigegebene Häuser in unterschiedlichen Straßen wurden ebenso abgerissen, wie zusammenhängende Siedlungsblöcke. So verschwanden in kurzen Zeitabständen die verschiedenartigsten Häuser. Der Eindruck eines Dorfes blieb jedoch noch lange erhalten, allerdings erschien der Ort auf gewisse Weise sonderbar. Der Ortskern um die beiden Kirchen herum stand bis 2007 fast unberührt. Die durch den Abriss der Häuser entstandenen Gruben wurden umgehend mit Erde gefüllt und auf ihnen maschinell Rasen gesät. So waren die entfernten Gebäude kaum mehr vorstellbar, und die neu entstandenen Rasenflächen fungierten als Mantel des Vergessens. Den Bewohnern zahlte die RWE Power AG eine Entschädigung gemäß des geschätzten Wertes ihrer Grundstücke und Häuser. Seit 2006 war Otzenrath nahezu unbewohnt. Oftmals wurden Fenster und Türen vernagelt, um die Gebäude vor Vandalismus und Plünderung von noch verwertbaren Materialien zu schützen. Ein Sicherheitsdienst wurde zur Überwachung und zum Schutz des neuen Eigentums des Energiekonzerns beauftragt. Der von vielen ehemaligen Bewohnern empfundene Verlust ihrer Heimat konnte jedoch mit Geld nicht aufgewogen werden. Orte der Vergangenheit und der eigenen Geschichte aufzusuchen, wird durch die endgültige Zerstörung des Dorfes unmöglich werden. In weiten Teilen Otzenraths sah man zuletzt nur noch die Gärten und Bäume der ehemaligen Grundstücke, die sich zu einer beinahe unschuldig wirkenden, parkähnlichen Landschaft verbanden. Nach und nach wurden die Bäume gefällt, aus deren zerkleinerten Stücken hügelartige Gebilde aufgeschüttet wurden, die sich über die Wiesen verteilten. Die Parklandschaft wurde zur verwüsteten Fläche. Zuletzt schlängelten sich zwischen den Wiesen nur noch verstaubte Straßen, gesäumt von den vielen, nun auffallend hoch wirkenden Laternen.
Ab 2045 soll die entstandene Grube vertragsgemäß rekultiviert werden. Aktuell ist geplant, das Restloch des westlichen Teils des Tagebaus in einen See umzugestalten. Dazu müssen von 2045 - 2085 ungefähr 60 Millionen Kubikmeter Wasser pro Jahr aus dem Rhein in das Loch geleitet werden. Der entstehende See würde bei einer Fläche von 23 km2 max. 185m tief sein. Im Gespräch ist auch eine völlig andere Lösung: der Bau eines Großflughafens auf dem zugeschütteten Gelände. Wie die Grube letztlich rekultiviert werden wird, und wie sich die neuen Ortschaften entwickeln werden, wird sich erst in vielen Jahren zeigen. Ebenso, wie viele Erinnerungen an das alte Otzenrath bleiben werden.