Die vergossene Milch der guten MÜtter
Zu den Fotocollagen Sabrina Jungs
Julia Wirxel
Die zeitliche Ferne, die zu den ersten fotografierten Porträts besteht, wird immer größer. So sind auch in den Fotocollagen der Serie Good Mothers – stärker als bei originalen Fotografien – zwei Zeitregime miteinander verwoben. Die Zeit wirkt wie geronnen, still – aber durch die Bearbeitung und Verfremdung Sabrina Jungs passiert etwas anderes mit den Bildern. Sie werden lebendiger, lauter, eröffnen Fragen und regen zum Vergleichen der 15 entstandenen Unikate an – beispielsweise zum Diskurs zur Maternität.
Das genutzte found footage der 1940er und 1950er Jahre aus Europa veranlasste die Künstlerin, sich mit dem suggerierten Bild einer jeden Frau als „guter Mutter“ auseinanderzusetzen. Zu sehen sind meistens Mädchen mit einer Puppe in unterschiedlichen Posen inszeniert. Typische Haar- und Kleidungsstile und auch die Gestaltung der Puppen sind in diese Zeit zu verorten. Die Halb- und Ganzkörperporträts wurden im Innen- wie Außenbereich realisiert und sind Amateur- und Fotostudiofotografien. Die Formate der Fotocollagen variieren zwischen 42 x 30 cm bis zu 140 x 100 cm.
Während der Bearbeitung wurden die Fotografien von Sabrina Jung partiell digital solarisiert und in den drei Farben Rosa, Lila oder Blaugrau eingefärbt. Die Puppen selbst wurden von diesem Prozess ausgenommen, verbleiben im ursprünglichen Schwarz-Weiss und werden als dupliziertes Element auf die Fotografie collagiert.
Durch diese ästhetischen Entscheidungen kommt der betrachtenden Person die Puppe räumlich visuell näher. Die Einfärbung und solarisierend bearbeiteten Partien lässt die Mädchen fremd wirken – wie nicht von dieser Welt, traumhaft, albtraumhaft. Durch das Künstliche der Bearbeitung entsteht ein Wirklichkeitsbezug, der die aus heutiger Sicht falschen Wahrheitsansprüche dieser Inszenierungen hinterfragt. Es sind der male gaze und auch der implizite mum’s gaze, die in die Inszenierungen der originalen Fotografien mit eingeflossen sind. Die Praxis der Amateurfotograf:in enthüllt „[…] das System der Schemata des Denkens, der Wahrnehmung und der Vorlieben des Ausdrucks, die einer Gruppe gemeinsam sind.“ (Bourdieu/Boltanski, 1965)
Man ist versucht, den Mädchen die Puppen aus dem Arm zu nehmen, um ihnen etwas anderes hineinzulegen. Was könnte dies sein? Ein Gegenstand, der nicht auf die vermeintlich heteronormative Rollenzuschreibung der Mutterschaft der Mädchen vorausweist? Ein geschlechtsspezifisch nicht besetztes Spielzeug? Oder, aus einer divers und inklusiv geschulten Sicht, ein subjektiv und individuell ausgewählter Lieblingsgegenstand?
Das wäre ein wunderbares Ziel wenn diese Mädchen, mit der ihnen oktroyierten sozialen, gesellschaftlichen, moralischen, (un-)politischen Rolle der Mutter der Vergangenheit angehören würden. Besonders die Mädchen, denen Sabrina Jung die Namen Ava und Tiara gegeben hat, wirken mehr als unheimlich und keinesfalls als vertrauenserweckende Mutterfiguren in spe. Sie erinnern eher an Horrorfilmprotagonistinnen, die zu gewalttätigen Dämoninnen werden könnten. Augen und Zähne muten diabolisch an, verstärkt bei Ava durch den heraufschauenden Blick.
Das Wunder des weiblichen Körpers, Leben zu schenken, als vorgeblicher Sinn des Lebens einer Frau, geht in einer patriarchalen Gesellschaftsordnung immer noch einher mit einer hegemonialen Stellung des Mannes gegenüber der Frau (und Mutter). Sollte die Ordnung durch diese Fähigkeit der Frau nicht umgedreht sein? Dieser erstaunliche Widerspruch lädt zu einem Gedankenexperiment ein: Was wäre, wenn Väter gebären könnten? Würden sich diese Hierarchien umdrehen? Eher nicht.
Bis ins 19. Jahrhundert hinein waren Frauen gute Mütter, ohne zu stillen und sich um weitere körperliche Bedürfnisse der Kinder zu kümmern. Diese Tätigkeiten konnten Ammen und Kindermädchen – gesellschaftlich akzeptiert – übernehmen. Das änderte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts und das Stillen wurde zunächst aufgrund der hohen Kindersterblichkeit und später für die seelische Gesundheit des Säuglings zur fast religiösen Mutterpflicht (einer verheirateten Frau).1
Mit der Begründung des Geschlechts und dessen Bezug zur „Natur“ wurden und werden Frauen persönliche und politische Rechte verweigert, wie das Frauenwahlrecht, das Recht auf Bildung, Berufstätigkeit, ein eigenes Einkommen und auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper (sexuelle Aufklärung, Verhütung, Abtreibung). Auch hatte der Vater das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder, nicht die Ehefrau/Mutter.
Bis heute gibt es strenge Rezepte für ein glückliches Leben. Die einen werden stigmatisiert, da es ihnen nicht möglich ist, diese Wege einzuschlagen oder sie sich bewusst gegen diese Vorgabe entscheiden. Die anderen folgen dem „recht durchsetzungsstarken Zwangssystem“ (Rebecca Solnit) und werden auch nicht glücklich. Mutterschaft als Kernidentität einer Frau ist eine abstruse Vorstellung eines patriarchalen Systems, das Frauen strukturell in ihrer Identitätsfindung benachteiligt – mit oder ohne Kind. Wie Männer dies selbstverständlich leben, können auch Frauen ihre Liebe auf Dinge, Tätigkeiten und andere Menschen richten und damit glücklich werden. Dies unterfüttert auch Christina Lupton, indem sie auflistet, was ihr während der Care-Arbeit als Mutter gefehlt hat: „[…] das Schreiben und das Erfinden, die Politik und [der] Aktivismus, das Lesen und das Sprechen in der Öffentlichkeit [und generell], das Protestieren, Lehren und Filmemachen … Fast alle Dinge, die ich am meisten wertschätze und von denen ich mir am ehesten Verbesserungen für die Conditio humana verspreche, sind brutal inkompatibel mit der tatsächlichen sowie imaginierten Arbeit, die Kinderbetreuung bedeutet.“ (Christina Lupton nach Rebecca Solnit)
Interessant ist bei der Betrachtung einer „guten Mutter“ das Bild eines „guten Vaters“. Bis in die 1960er Jahre galten Männer als psychisch nicht in der Lage, sich um ihre Babys und (kleinen) Kinder zu kümmern. Heute ist dies möglich. Dennoch ist der Bereich Teilzeit für Männer/Väter und dadurch mehr Care-Arbeitszeit, Eltern- und Erziehungszeit erweiterungsfähig.
Zurück zu der Serie Good Mothers: Was ist aus den fotografierten Mädchen geworden, die mit einer Puppe posiert haben? Sind sie alle „gute“ Mütter? Sind sie überhaupt Mütter? Mütter, als Zentrum der heterosexuellen patriarchalen (Klein-)Familie sorgen dafür, dass ihre Kinder ihren „natürlichen“ geschlechtlichen Platz einnehmen. Diese „soziale Ordnung“ lagert sich in den Fotos der Familienalben ab und ist ein sedimentierter Ausdruck des doing gender.
Lange gibt es schon alternative Konzepte zur patriarchal geprägten Kleinfamilie mit einer Mutter als erschöpfter Care-Arbeiterin, begonnen mit Matri-Clans bis hin zu Wahlfamilien/Wohngemeinschaften, die aus (kinderlosen) Frauen und Männern, Freund:innen, Verwandten und Kindern bestehen können.
Aufschlussreiche Beobachtungen der Körperhaltung und -sprache sind auch in den Arbeiten Sabrina Jungs zum Thema des sozialen Geschlechts zu erkennen. In Abgrenzung zur Fotografie von Jungen zeigen sich Mädchen oftmals kaum gerade, aufrecht, selbstbewusst oder lässig. Stattdessen sind die Knie beim Sitzen eng geschlossen zu halten, genauso stehen die Füße oft nah beieinander, wie bei Mia. Der Rock wird, als Schutz vor Blicken, mit der Hand nach unten gehalten. Bei Hanna drückt der geneigte Kopf und der freie Nacken Lieblichkeit, Unsicherheit und Unterwürfigkeit aus.
Die Spielpuppe begann sich im 19. Jahrhundert dem fotografischen Abbild der Mädchen anzupassen. Die Puppe wird dann wiederum zur mimetischen Vorlage der Mädchen. Der Kontakt mit der Puppe wirkt wie ein Spiegel (Susanne Regener), der die gesellschaftlichen Erwartungen reflektiert und das Mädchen auf ihre gute Mutterrolle vorbereitet. Ernst schaut Nora in die Kamera und hält die sehr große und fast selbstständig stehende Puppe an der Hand. Dieses Foto wirkt recht kurios, vielleicht wie ein Punktum, eine Aufmüpfigkeit oder ein Fehler
in der Schaffung eines als liebreizend intendiert inszenierten Mädchenporträts. Das Mädchen ist aus ihrem Kleid herausgewachsen, es ist zu eng und zu kurz, der Kopf wirkt sehr groß. Welche Blickkonstruktion agiert hier gerade aus der zeitlichen Distanz? Der mum’s oder (patriarchal geprägte?) „female“ gaze?
Almas präsentierte Puppe erfüllt alle typischen Puppenmerkmale: runde Formen, kurzer Hals, Pausbacken. Stupsnase, große Augen, rundliches Kinn mit Grübchen. Der systemische Kreis von femininen äußerlichen Liebreizen schließt sich.
Die Bilder von Sabrina Jung zeigen eine Doppelung. Nicht nur, dass Mädchen als der Natur zuzuordnendes Geschlecht naiv-unschuldig gezeigt, sondern auch, dass sie mit ihren zukünftig imaginierten Kindern abgelichtet werden, die im Objekt der Puppe eine Stellvertreterfunktion finden: Das Puppenmütterchen als ideales, patriarchal konstruiertes Zukunftsszenario einer jeden weiblichen Person … Auf diese Weise bricht die Künstlerin mit ihrer Serie Good Mothers das Rollenklischee der „guten Mutter“ energisch auf, in der Hoffnung, dass die verknüpften Vorstellungen an (gute) Mütter bereits bald als vergossene Milch betrachtet werden können.
1 In den 1920er Jahren fanden in Dänemark sogar Wettbewerbe zur gesunden Erziehung von Kindern statt. (Pia Fries Laneth)
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